Fallbeispiel: Soziale Phobie, Angst vor Gesprächen an der Supermarktkasse
Katja, 20 Jahre alt (Name geändert), kam gemeinsam mit ihrer Mutter in meine Praxis, weil ihre Angst vor dem Einkaufen sich innerhalb der letzten Monate so zugespitzt hatte, dass sie sich nicht in der Lage sah, ihre Einkäufe zu erledigen.
Allein die Vorstellung, an einer Supermarktkasse mit einer Kassiererin oder einem Kassierer reden zu müssen, bereitete ihr Herzrasen, schweißnasse Hände und Unwohlsein.
Auf den ersten Blick wirkte Katja wie eine junge Frau mit sehr gepflegtem Äußeren, die mitten im Leben stand. Von außen ließ sich jedoch nicht einmal im Ansatz erahnen, wie sehr ihre innere Welt von ihren Ängsten beherrscht wurde. Als wir uns gegenübersaßen, suchte Katja ständig den Blickkontakt zu ihrer Mutter, und es schien ihr schwerzufallen, ihre Hände ruhig zu halten.
Im telefonischen Orientierungsgespräch hatten wir vereinbart, dass ihre Mutter in der ersten Sitzung zu Beginn ca. fünfzehn Minuten anwesend sein könnte, und wir danach zu zweit weiterarbeiten würden. Bereits in diesem Telefonat war mir aufgefallen, wie sie ausnahmslos "Mutti" und "Vati" sagte, wenn sie von ihren Eltern sprach, und sie sprach oft von ihnen.
Katja pflegte ein sehr intensives Verhältnis zu ihrer Mutter, welches sich nach dem Tod ihres Vaters vor drei Jahren noch verstärkt hatte.
Nachdem ich uns Mineralwasser eingeschenkt hatte, eröffnete ich unser Gespräch: "Schön, dass ihr hier seid. Katja, vielleicht magst du mir sagen, was dir für die heutige Sitzung besonders wichtig wäre." Wir hatten uns im Vorfeld darauf geeinigt, uns zu duzen.
Wieder ging der Blick zu ihrer Mutter, bevor sie antwortete: "Ich möchte nicht mehr so eine starke Angst haben, dass ich wieder eine Panikattacke bekomme, wenn ich einkaufen gehe und im Supermarkt an der Kasse stehe."
"Früher war es mehr so eine Art Unlust gegenüber dem Einkaufen. Ich mochte es schon als Kind nicht gerne, wenn ich mitkommen musste, um Lebensmittel zu besorgen", berichtete sie.
"Vor allem, wenn Mutti mich von der Schule abholte und wir auf dem Heimweg noch Essen kaufen gingen, fand ich das total blöd," fügte sie hinzu.
"Ich habe es oft vermieden, dich dorthin mitzunehmen, wo du dich in Einkaufszentren und Lebensmittelläden nicht wohlfühlst. Als dein Vater jedoch krank wurde , ließ es sich manchmal nicht umgehen. Ich war dankbar für jeden Weg, den ich nicht extra gehen musste", warf ihre Mutter ein.
"Ich weiß", antwortete Katja leise.
Einige Fragen später, nachdem wir uns etwas besser kennenlernen konnten, schien es mir an der Zeit zu sein, wie vereinbart mit Katja alleine fortzufahren.
"Wenn das für alle Beteiligten passt, würde ich jetzt gerne mit Katja in die Biografiearbeit am Flipchart übergehen", schlug ich vor.
Nach einem erneuten Blickwechsel zwischen Tochter und Mutter nickten beide, und ich verabschiedete Katjas Mutter an der Tür. Wir vereinbarten, dass sie ihre Tochter nach der Sitzung abholen würde.
Katja schien zunächst wieder etwas verunsicherter zu sein und sie drückte sich häufig sehr kindlich aus. Es war, als unterhielte ich mich mit einem Kind im Körper einer Zwanzigjährigen.
Aufmunternd fragte ich sie: "Hey, wollen wir loslegen?" Katja nickte.
"Lass uns, wie besprochen, am Flip-Chart zunächst alles sammeln, was dir guttut, wobei du dich sicher, geliebt und geborgen fühlst. Im Fachjargon nennen wir es Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen sammeln. Einverstanden?", schlug ich vor.
Wieder nickte Katja.
Mit einem roten Marker unterteilte ich das Flipchart mit einer horizontalen Linie in zwei Hälften. Oberhalb der Linie würden wir die stärkenden Ereignisse eintragen und unterhalb der Linie eher herausfordernde, belastende Momente oder Phasen ihres Lebens.
"Auch wenn du dich in Einkaufssituationen, insbesondere an der Kasse, des öfteren unwohl, überfordert und ängstlich fühlst, magst du mir Situationen in deinem Leben nennen, in denen es dir richtig gut geht oder ging? Das können Orte, Menschen, Tiere, Tätigkeiten oder Phantasien sein - alles, was dir guttut", bot ich ihr an.
Nach kurzem Überlegen begann sie im Sessel sitzend aufzuzählen. "Ich fühle mich Zuhause am wohlsten, und ich lese sehr gerne. Am liebsten dicke Bücher, da kann ich mich so richtig in der Geschichte verlieren."
"Wie lange begleitet dich deine Vorliebe fürs Lesen schon?", fragte ich. "
Schon seit ich denken kann", antwortete sie.
"Magst du das hier auf deiner Lebenslinie eintragen?", fragte ich nach. Ich wollte mehr Interaktion zwischen uns beiden anregen.
"Das kann ich machen", antwortete sie und erhob sich aus dem Sessel, um ans Flip-Chart zu kommen. "Was soll ich schreiben?", fragte sie.
"Was möchtest du schreiben?", fragte ich zurück.
"Hm, ich könnte schreiben: 'Ich mag das Lesen, weil es mir hilft, meine Ängste zu vergessen und mich sicher zu fühlen'", antwortete sie halb fragend.
Diesmal war ich es, der nickte, und sie schrieb den Satz mit feinsäuberlicher Schrift oberhalb ihrer Lebenslinie auf. Auf diese Weise sammelten wir und hatten Gelegenheit, uns noch besser kennenzulernen. Dabei stellte sich heraus, dass Katja ein sehr visuell veranlagter Mensch war.
Zusammen mit ihrer Mutter wohnte sie in der Wohnung, in die sie gezogen waren, als Katja auf ihr Wunsch-Gymnasium gewechselt war. Aufgrund ihres herausragenden Notenschnitts und einer bestandenen Aufnahmeprüfung war sie dort problemlos angenommen worden.
Mit dem Schulwechsel hatten sich ihre Eltern auch eine bessere Integration in eine neue Klassengemeinschaft erhofft, was sich jedoch nicht erfüllte.
Auch wenn Katja weiterhin sehr gute schulische Leistungen zeigte, war sie doch die Einzelgängerin geblieben, der es schwerfiel, Anschluss zu finden.
„Seit Vati gestorben ist, habe ich noch ein paar Mal probiert, alleine Einkaufen zu gehen. Bei meinem letzten Versuch hatte ich eine furchtbare Panikattacke an der Kasse, ich dachte wirklich, ich muss sterben. Dabei sah ich einen inneren Film, wie mich der Notarzt auf einer Liege abholen musste, und es war mir furchtbar peinlich“, sagte sie, während sie errötete.
„In Wirklichkeit ist das alles nur in meinem Kopf passiert, wie so viele andere schlimme Vorstellungen auch“, fügte sie hinzu.
Leider hatten weder eine Gesprächspsychotherapie zur Aufarbeitung des Todes ihres Vaters noch eine Verhaltenstherapie bezüglich ihrer Ängste beim Einkaufen die gewünschten Fortschritte gebracht. Katjas letzte Therapeutin hatte Hypnose zur Überwindung ihrer Angst vor dem Reden an der Supermarktkasse vorgeschlagen.
„Wie soll ich denn jemals alleine leben, wenn ich nicht mal zum Einkaufen gehen kann? Ich kann es mir nicht leisten, ständig einen Lieferservice kommen zu lassen oder mein ganzes Leben davon abhängig zu sein, dass Mutti für mich einkaufen geht“, schluchzte Katja.
Je länger wir uns unterhielten, desto mehr bekam ich den Eindruck, als würde ein gutes Stück Arbeit vor uns liegen. Während der Biografie-Arbeit bestätigte sich der Eindruck, dass Katja in vielen Bereichen des Lebens wenig Selbstständigkeit gelernt hatte, und ich holte mir ihre Erlaubnis, mit ihrer Mutter zu reden.
In der inneren Arbeit mit der Kinotechnik nutzten wir Katjas natürliche Veranlagung, zu visualisieren. So konnte sie sich gut auf eine hypnotische Trance einlassen und war ganz erstaunt über all die inneren Bilder, Filme und Impulse, die sich dabei zeigten. Ich bot ihr an, bestimmte Sequenzen dieser Wahrnehmungen aus sicherem Abstand in Zeitlupe zu betrachten.
„Es ist erstaunlich, welche Gedanken und Gefühle ich beim Einkaufen wahrnehme: Was werden die Leute denken, wenn ich eine Packung Salami in den Einkaufswagen lege? Werden sie mich dann verurteilen, weil ich immer noch Fleischesserin bin? Ich darf nicht vergessen, das Obst zu wiegen, sonst stehe ich an der Kasse, und die Kassiererin geht los, um es zu wiegen, und alle schauen mich genervt an. Was mache ich, wenn meine EC-Karte nicht funktioniert oder ich meine PIN vergesse? Ich weiß nicht was ich sagen soll. Jetzt fängt mein Herz an schneller zu schlagen, mein Bauch krampft sich zusammen und alle können sehen, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ich will hier nicht sein, ich will raus“, zählte sie auf, während ich, wie vereinbart, neben ihr saß, mit meiner Hand auf ihrer rechten Schulter, um Geborgenheit zu vermitteln.
„Das ist ja ein ganzes Meer an schlimmen Gedanken und körperlichen Empfindungen. Ist es gut, wenn ich diese inneren Erlebnisse aufschreibe?“, fragte sie mich während der Nachbesprechung.
„Wenn dieser Impuls auftaucht, hat er bestimmt seine Berechtigung“, sagte ich aufmunternd und brachte sie zur Tür, wo ihre Mutter bereits mit erwartungsvollem Blick auf sie wartete.
In einem ausführlichen Telefonat mit Katjas Mutter wurde klar, dass Katjas Angst vor dem Einkaufen nur eine ihrer Ängste war. In einem ängstlichen und überfürsorglichen Elternhaus aufgewachsen, hatten die lange, schwere Krankheit und der frühe Tod ihres Vaters zusätzliche Spuren hinterlassen.
Gegen Ende dieses Telefongesprächs sagte Katjas Mutter: „Ich denke, es ist an der Zeit, für mich selbst noch einmal psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Ich hatte bereits mehrere Anläufe, die ich alle abgebrochen habe. Ich möchte meine eigenen Ängste nicht weiterhin auf mein Kind übertragen.“
Als wir uns verabschiedeten, lag Aufbruchstimmung in der Luft, die sich auch in den folgenden Sitzungen mit Katja zeigte. Neben dem Lesen wurde das Schreiben zu ihrer neuen Leidenschaft. Es gab ihr Auftrieb und Selbstbewusstsein. Sie schrieb Briefe an ihren verstorbenen Vater und Geschichten über das Einkaufen, die sie mir vorlas.
Es war an der Zeit, neue Geschichten und Drehbücher für neue innere Filme zu schreiben. Sie hießen: Katja wuppt den Einkauf. Katja wird an der Kasse vorgelassen. Der Kassierer mit den coolen Tattoos. Vati ist stolz auf mich und heute sitze ich mal an der Kasse.
Es waren intensive und herausfordernde Sitzungen, in denen wir beide unser Bestes gaben. Euphorie, Zweifel und Zuversicht wechselten sich ab, und neben Katjas Phobie vor dem Einkaufen konnten wir dem Umgang mit dem Tod ihres Vaters Zeit widmen. Nachdem Katja während der Hypnose in der Praxis wiederholt alleine im Supermarkt einkaufen war, wuchs ihre Bereitschaft, im wirklichen Alltag einen erneuten Versuch zu starten.
Sie schlug vor: „Ich werde es machen, wie hier in der Praxis. Beim ersten Mal nehme ich Mutti mit und dann gehe ich alleine rein. Ich weiß jetzt auch, dass ich einen Teil von ihren Ängsten übernommen habe.“ „Da sage ich doch nicht nein, oder sollte ich besser sagen, das halte ich für eine fantastische Idee?“, antwortete ich freudig.
Der Bann war gebrochen, und Katja übte fleißig sowohl die Selbsthypnose als auch das Einkaufen im richtigen Leben. Es war ein Prozess, der sich über mehrere Wochen hinzog. Supermärkte zählen auch heute noch immer nicht zu ihren Lieblingsorten, und gelegentlich beschleicht sie ein ungutes Gefühl beim Gedanken ans Einkaufen. Doch dank ihrer gewachsenen inneren Stabilität ist sie ist jetzt in der Lage, sich selbstständig mit Lebensmitteln zu versorgen.
Als nächster Schritt steht für Katja die Auswahl eines geeigneten Studiums auf dem Programm.
Fazit:
Angst vor dem Einkaufen, Probleme beim Bezahlen an der Supermarktkasse, Panikattacken im Einkaufszentrum – für viele von uns kaum vorstellbar, für eine steigende Zahl der Menschen in Deutschland und Europa alltägliche Realität. Soziale Phobien und Ängste im öffentlichen Raum sind weiterhin auf dem Vormarsch.
Katjas Bereitschaft zu lernen, im Alltag zu üben und sich auf die innere Arbeit einzulassen, halfen ihr sehr beim Überwinden ihrer Angst vor dem Einkaufen. Die Einbeziehung des Familiensystems spielte auch in ihrem Fall eine wichtige Rolle.
Hypnose ist eines der ältesten Heilverfahren, die wir kennen. 2006 wurde sie vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (WBP) anerkannt. In der Regel kommen meine Praxisbesucher*innen zwischen drei und fünf Mal zur Behandlung, um eine Lösung für ihr Problem zu finden. Im Vorfeld einer Hypnosetherapie bei Angst vor dem Einkaufen solltest Du organische Ursachen für dein Anliegen ausgeschlossen haben. Mehr über Jojo Weiß.
Hinter der Angst liegt die Freiheit.
Herzliche Grüße,
Jojo Weiß
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